Buchbesprechung

Ausgabe
2019 September / Oktober

 

Es ist ein erstaunliches Buch, das Helmut Milz, Facharzt für psychosomatische Medizin und Allgemeinmedizin, gerade publiziert hat. Es geht um nicht weniger als um die Beantwortung der Frage, wie sich Erleben und Verstehen des menschlichen Körpers während der vergangenen Jahrhunderte verändert haben. Er zeigt, wie sich die sinnlichen Erfahrungen im Rahmen der neurobiologischen Forschung mehr und mehr zu messbaren elektrischen Impulsen gewandelt haben. So wird heute mit einem Mikrogramm mehr oder weniger Serotonin in unserem Gehirn eine Depression erklärt und die entsprechende therapeutische Intervention begründet. So wichtig die Neurobiologie als wissenschaftliche Disziplin sein mag, so wichtig ist es gleichzeitig, die menschlichen Sinne nicht gering zu schätzen. Es muss eine Verbindung zwischen gewachsenen Erfahrungen und aktuellen Erkenntnissen in der Medizin und ihrem Umgang mit PatientInnen hergestellt werden.

Die Kapitel haben mit unseren wichtigsten „eigenen Sinnen“ bzw. den Funktionsbereichen unseres Körpers zu tun. Es geht um das Berühren, Schmecken, Riechen, Hören und Sehen. Die weiteren Kapitel handeln vom Herzen, vom Atmen, unserem Nervengeflecht, dem Bauch(gefühl), von den Knochen, der Muskelkraft und schließlich vom inneren Fluss des Lebens. In jedem der etwa 20- bis 30-seitigen Kapitel wird erläutert, was es mit den jeweiligen Sinnen, auch in einer kurzen historischen Betrachtung, auf sich hat und wie sie sich im Laufe der Zeit (auch im Blick der Wissenschaft) entwickelt haben: So geht es etwa im ersten Kapitel zur Hand von ärztlicher und therapeutischer Berührung bis hin zum Händedruck als Kom munikationsmittel, der uns Menschen auch mit unseren Sinnen einordnen lässt.

Beim Schmecken geht es dann um die Metaphern des Geschmacks – „süß“ als Beschreibung von Wohlgeschmack und Freude, Liebe und sogar Rache, bei „salzig“ wird der Zusammenhang in der Bergpredigt angesprochen („Ihr seid das Salz der Erde“), aber auch die zusätzliche Gratifikation römischer Legionäre, die zu ihrem Sold zusätzlich Salz als Lohn erhielten, daher der Begriff „Salär“ (lat. Salarium). Das Hören wiederum hat gerade in der Psychotherapie einen wichtigen Platz. Denn es gibt keine technischen Apparaturen, um die persönlichen Gespräche mit den Klienten zu objektivieren. Daneben gibt es aufseiten der TherapeutInnen die Supervision, die ebenfalls mit Sprechen und Hören bei erfahrenen KollegInnen zu tun haben.

Die Entwicklung im Umgang mit unseren Sinnen und Sinneserfahrungen wird von Milz durchaus mit kritischer Distanz begleitet. Einerseits wird es kaum verhinderbar sein, dass sich die Entwicklung einer computergestützten, immer tiefer in das menschliche Gehirn eindringenden Entschlüsselungswissenschaft aufhalten lässt. Anderseits lassen sich dadurch aber intuitiver Spürsinn, Bauchgefühl, Empfindungen des Herzens und vor allem der Gemeinsinn der Menschen nicht verdrängen, weil sie sich einer objektiven Messbarkeit entziehen. Ein „gelingendes Leben“ ist auch im Spiegel dieser Sinnesempfindungen zu erklären und zu entwickeln, messbare elektrische Impulse sind dabei weder sinnstiftend noch erklärend. Dies sollte auch bei den digitalen Selbstoptimierungsprogrammen bedacht werden, da hinter all den anfallenden Daten Interessen zu vermuten sind, die entweder für Geschäftemacherei oder technische Kontrolle genutzt werden.

Das Buch von Milz ist ein ausgesprochen lesenswertes und gelungenes Manifest zur Bedeutung eines wohlverstandenen „Eigensinns“, der für uns Menschen auch eine unverwechselbare Individualität in unserem (Er-)Leben bedeutet. Die einzelnen Kapitel zeigen aber auch die Veränderbarkeit der menschlichen Sinne im Laufe der Zeit, etwa durch kulturelle, gesellschaftliche und wissenschaftliche Einflüsse. Das – übrigens auch noch optisch schön gestaltete – Buch hilft uns zu erkennen, warum dies ein lohnender Weg ist. Ich habe dieses Buch gern gelesen und möchte es allen ans Herz legen, die mit wachen Sinnen ihr Leben gestalten wollen.

Prof. Dr. Gerd Glaeske
Universität Bremen